Quelle des Lernschritts: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e. V. (2020): Ein Interview mit Herrn Dr. Prasad Reddy zum Thema "Wie kann Integrationsförderung in Leitbildentwicklungsprozessen verankert werden?". Lernmaterial für das Projekt Manage2Integrate. August 2019.

Dr. phil. Prasad Reddy ist promovierter Erziehungswissenschaftler und Geschäftsführer des Zentrums für soziale Inklusion Migration und Teilhabe (ZSIMT) in Bonn.  Das folgende Interview wurde am 19.08.2019 durchgeführt. Durch ein Klicken auf die Fragen öffnen sich die Antworten darunter. 

 

Soziale Inklusion fördern, Bild: iStock.com, AndreyPopov, nicht unter freier Lizenz

Integration gilt als Querschnittsaufgabe für alle Ebenen von Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Was bedeutet das für die Leitbildentwicklung? 

Zuerst möchte ich den Begriff „Integration“ und „Integrationsförderung“ im Kontext der gestellten Frage näher beleuchten. „Integration“ ist als Begriff meines Erachtens überholt. Der Begriff suggeriert bzw. impliziert, dass sich jemand durch sein Migrieren in ein homogenes, intaktes Milieu „integrieren“ bzw. einbringen muss. Damit wird die Last dieser Einbringung allein auf die Schultern der sich zu „integrierenden“ Person oder Personengruppe gelegt. Die aktuelle kritische Wissenschaft und Praxis lehnt solch einseitige Integrationsrhetorik ab. Ich vertrete ein erweitertes Konzept der Integration, nämlich das der sozialen Inklusion, Belonging (Zugehörigkeiten) und Capability-Förderung (Befähigungsansatz) im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Ich plädiere daher auch für den Begriff „Soziale Inklusionsförderung“. Die Konzepte der Sozialen Inklusion, Belonging und Capability-Förderung habe ich in meinem Beitrag „Weiterbildungsforschung und Praxis in einer Migrationsgesellschaft“ in der Publikation „Inklusion und Weiterbildung: Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart“ (2010) ausführlich beschrieben. Eine weitere Publikation von mir, „Indikatoren der Inklusion: Grundlagen, Themen, Leitlinien“ (2012), vertieft die darin vertretenen Thesen. In diesem Sinne werde ich im Folgenden von „Sozialer Inklusion“ statt „Integration“ sprechen. Dies impliziert partizipative Anerkennung und Verteilungsgerechtigkeit. Ihre Gestaltung und Pflege ist eine Aufgabe für uns alle.

Soziale Inklusion als Querschnittsaufgabe bedeutet in erster Linie eine überzeugte Unterstützung der Gestaltung und Pflege eben dieser durch alle Beteiligten in der jeweiligen Einrichtung. Sie sollte sowohl in Top-Down- als auch in Bottom-Up-Ansätzen vorhanden sein. Soziale Inklusion bedeutet die Einbeziehung ALLER in einer Einrichtung beteiligten Menschen bei der Initiierung und Entwicklung des Leitbildes. Von Anfang an muss ein Sinn von „Ownership“ eingeführt sein. Das bedeutet: Jede bzw. jeder der Beteiligten sollte in die Lage gebracht werden, zu sagen: „Dies ist mein Leitbild!“. Leitbildentwicklung, die die Förderung von Sozialer Inklusion als eine querschnittspolitische Strategie voraussetzt, bedeutet, sich nicht nur auf bestimmte Mitarbeitendengruppen oder bestimmte Zielgruppen zu beziehen. Querschnittsaufgabe bedeutet, dass das Thema für alle Bereiche, für alle Ebenen, für alle Hierarchien und für die gesamte Mitarbeiterschaft gilt. Neben den intern Einzubeziehenden gilt dies auch für externe Akteure: Kundinnen und Kunden bzw. Lernende, Lehrende/Dozierende, Stadtteileinrichtungen, Behörden, Geldgebende/Fördernde sowie Akteurinnen und Akteure aus der Politik. „Das ganze System in einen Raum bringen“ ist die bewährte Devise in solchen Organisationsentwicklungsprozessen.

Welche Rolle spielt die Leitbildentwicklung für die Integrationsförderung? 

Ein Leitbild reflektiert die Grundphilosophie einer Einrichtung. Wenn, wie oben erwähnt, alle Mitarbeitenden und die betreffenden externen Akteurinnen und Akteure ins Boot geholt worden sind, entsteht idealerweise ein „Commitment“ für die Aufgabe der Gestaltung und Pflege von Sozialer Inklusion.

Das Bildungswesen, darunter auch die Erwachsenenbildung, ist kein rassismusfreier Raum, allerdings wird diese Thematik häufig tabuisiert. Man sollte als Teil des Leitbildentwicklungsprozesses daher fragen, ob und wie Rassismuskritik und Antidiskriminierung als feste Bestandteile der Erwachsenenbildung aufgenommen und implementiert werden können. Die aktuelle gesellschaftspolitische Lage ist geprägt durch Demokratiegefährdung, den Abbau von Hemmschwellen und einen „salonfähigen“ Rassismus als Legitimation für Diskriminierungen und Ausgrenzungen. Dies festigt und reproduziert Machtverhältnisse. Die Institutionen haben die Verantwortung, genau hinzuschauen:

  • Welche Rolle hat die Erwachsenenbildung im Rahmen einer Migrationsgesellschaft inne?
  • Auf welche Standards beziehen wir uns?
  • Was geben wir in unseren Kursen, in Aus- und Weiterbildungen weiter?
  • Welche Diskriminierungseffekte (re-)produzieren Bildungseinrichtungen selbst?

Die Erwachsenenbildung hat die Verantwortung, sich selbst kritisch zu hinterfragen: Wenn Menschen mit Migrationsbiographie beim Zugang zu Arbeitsplätzen in der Erwachsenenbildung diskriminiert werden, z. B. durch unreflektierte Sprachnormen, wenn das Thema Rassismus und Diskriminierung in die politische Bildung abgeschoben wird – wie kann es gelingen, ein Leitbild für die Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft umzusetzen? Welche Rahmenbedingungen ermöglichen bzw. fördern einen reflexiven Habitus, pädagogische Professionalisierung und ein politisches Selbstverständnis der Mitarbeitenden? In diesem Sinne stellt das Leitbild für die Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft eine Selbstverpflichtung dar, mit der die Unterstützenden sich für eine antidiskriminierende Politik und eine diversitätsorientierte, rassismuskritische Haltung in ihrem jeweiligen beruflichen Umfeld als Erwachsenenbildenden einsetzen. Zu diesem Zweck fördert das Leitbild die nötigen Reflexionsprozesse sowie die Bewusstseinsbildung der Mitarbeitenden (und externen Partnerinnen und Partner). Man sollte daher im Vorfeld und im Hinblick auf die Leitbildentwicklung über Leitvorstellungen, Handlungs- und Umsetzungsmöglichkeiten durch zukunftsfähige Bildungsangebote in der jeweiligen Einrichtung sprechen – insbesondere bei der Aufgabe der sozialen Inklusionsförderung.

 Wie gelingt ein ganzheitlicher Leitbildentwicklungsprozess im Sinne der Integrationsförderung?

Im gesellschaftlichen Leben im Sinne von Capability-Förderung und Belonging in Deutschland. Es geht auch darum, sich in einem solidarischen Kontext zu bewegen, andere mitzudenken, Vielfalt und Gleichheit zu berücksichtigen:

  • Wo stehe ich, von wo aus spreche ich, wenn es um soziale Ungerechtigkeit geht?
  • Wo/in welcher Gruppe habe ich Privilegien? Kann/möchte ich sie im Sinne des Power-Sharing für andere nutzen?

Auf gesellschaftlicher Ebene heißt Soziale Inklusion, aktive Teilhabe zu ermöglichen. Macht- und Herrschaftsverhältnisse sollen analysiert und in Frage gestellt werden können. Ein ganzheitliches Verständnis der gesellschaftlichen Inklusion tritt für die Idee des Verbündetseins ein, wo die Anliegen der Anderen eigene Anliegen werden. Geht es um die Umsetzung in der eigenen Organisation, kann diese Auseinandersetzung mit der Frage „Was will und was kann ich tun?“ bedeuten, Verhältnisse in Frage zu stellen, eine Haltung zu entwickeln, sich dem (Gegen-)Wind auszusetzen. Soziale Inklusionsförderung ist damit ein nie zu Ende kommender Prozess. Das bedeutet, dass das Leitbild über Jahre und je nach gesellschaftlichen Veränderungen kontinuierlich angepasst werden muss. Expertinnen und Experten mit Migrationshintergrund sollten in diesen Prozess eingebunden sein – gegebenenfalls als Externe, falls sie in dem eigenen Betrieb nicht vertreten sein sollten.

Was muss von Leitungskräften beachtet werden?

Hier könnte man einiges von Anti-Bias (Bias= Voreingenommenheit) basierten Organisationsentwicklungsmaßnahmen lernen. Die Führungskräfte können ihre (Definitions-) Macht nutzen, um Ausgrenzungstendenzen und Diskriminierungsfälle in ihrer Einrichtung anzusprechen und diese zu unterbinden. Die Leitungskräfte sollten besonders auf Vielfaltsmanagement setzen – nicht primär wegen rein wirtschaftlichen Interessen, sondern basierend auf Gerechtigkeit und Gleichstellung in der Erwachsenenbildung. Gezielte Fortbildungen und Schulungen zu Anti-Bias für die Mitarbeitenden und Führungskräfte mit und ohne Migrationshintergrund sind in diesem Sinne unverzichtbar. Möglichkeiten der herrschafts- und angstfreien Räume für das Zusammenkommen und den Austausch zwischen traditionell ausgeschlossenen Gruppen (u. a. Migrantinnen und Migranten) müssen vorhanden sein.

Eine weitere Aufgabe sollte die Suche nach Verbündeten und die Vernetzung in Sachen Antidiskriminierung sein. So können Führungskräfte und Mitarbeitende Ressourcen aktivieren. Ein Gesamtkonzept zur Schaffung eines diskriminierungsfreien Arbeitsumfeldes sowie zur Förderung personaler Vielfalt in den Einrichtungsstrukturen sollte dabei das Ziel sein. Die Grundidee besteht darin, die Vielfalt der Menschen bewusst in die Organisation zu integrieren und sie zum Vorteil aller Beteiligten zu nutzen. Dies bedeutet auch die Fortentwicklung der Mitarbeiterschaft sowie der Gesamtorganisation. Dies impliziert auch eine bevorzugte Einstellung von Menschen mit Migrationshintergrund in Leitungspositionen. Eine diesbezügliche bewusste Entscheidung muss einem neuartigen Organisationsentwicklungsprozess vorausgehen.

Für die Führungskräfte bedeutet dies eine Weiterentwicklung der für die Einrichtung grundlegenden Offenheit. Soziale Inklusionsförderung soll zukünftig in allen Bereichen der Organisation fest verankert werden. Dies geschieht nicht durch organisatorisch und inhaltlich spezialisierte Arbeitsweisen, sondern in einem ganzheitlichen Ansatz: soziale Inklusionsförderung als Querschnittsaufgabe in allen Arbeitsbereichen. Indem Strategien, Instrumente und Erfahrungen aus einzelnen Bereichen für alle Dimensionen von Sozialer Inklusion nutzbar gemacht werden, unterstützen Führungskräfte ihre Mitarbeitenden dahingehend, die Vielfalt als Chance zu begreifen und Benachteiligungen entgegenzuwirken. Diese Gesamtstrategie sollte durch einen „Soziale Inklusion und Diversity“-Ausschuss und eine Ombudsperson oder eine für Soziale Inklusion und Diversity beauftragte Person (mit einer festen Stelle, nicht ehrenamtlich) unterstützt werden.