Manchmal führt ein und dieselbe Situation zu unterschiedlichen Interpretationen und Wahrnehmungen. Das ist nur natürlich, weil jeder Mensch aus seiner persönlichen und subjektiven Sicht auf eine Sache blickt. Auch beim Thema Lernerfolg kann ein und dieselbe Ausgangslage ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Lesen Sie dazu im Folgenden ein Beispiel:

In einer Familienbildungsstätte neigt sich der Sprachkurs „Spanisch für Fortgeschrittene“ dem Ende zu. Drei Monate lang haben sich die 15 Kursmitglieder einmal wöchentlich abends für zwei Stunden getroffen, Hör- und Leseverstehen trainiert, Grammatik wiederholt und Konversationsübungen gemacht. Kurz vor der Abschlussprüfung, bei der nach dem Europäischen Referenzrahmen die Niveaustufe B2 abgeprüft werden soll, geben ein Dozent und eine Teilnehmerin Einblick in ihre Einschätzung zum Lernerfolg.

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GER) 

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen befasst sich mit der Beurteilung von Fortschritten in den Lernerfolgen bezüglich einer Fremdsprache. Ziel ist, die verschiedenen europäischen Sprachzertifikate untereinander vergleichbar zu machen und einen Maßstab für den Erwerb von Sprachkenntnissen zu schaffen. Eingeteilt werden Sprachkenntnisse von der Niveaustufe A1 (Anfänger), über A2, B1, B2 und C1 bis hin zu C2 (Muttersprache).  

http://www.europaeischer-referenzrahmen.de/

Das Bild zeigt eine junge Frau mit roten Haaren und einer schwarzen Bluse.

      Damira Paffenholz 

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Damira Paffenholz (27), möchte durch die Teilnahme am Kurs ihre Chancen auf dem internationalen Arbeitsmarkt erhöhen.

Ich bin wirklich positiv überrascht, wie erfolgreich der Kurs für mich läuft. Ich habe bereits in der Schule Spanisch gelernt und bin hier durch den Nachweis auf dem Abiturzeugnis direkt und ohne Kontrolle in den B2 Kurs eingestuft worden. Das war anfangs aber sehr schwer für mich, zudem ich jetzt einige Jahre raus aus der Sprache bin. Ich war früher in der Schule schon immer eher schüchtern im Sprachunterricht und habe mich freiwillig nie getraut, etwas zu sagen. Hier in der Familienbildungsstätte war eine so wohlwollende Atmosphäre, dass ich  endlich den Mut gefunden, einfach zu reden, ohne auf Fehler und Satzkonstruktionen zu achten. Dadurch bin ich beim Sprechen viel selbstbewusster geworden und kann mich endlich an Gesprächen beteiligen. Ich verstehe auch viel mehr und kann den anderen, in dem was sie sagen, viel besser folgen. Vor drei Monaten war ich noch froh, wenn ich das Thema verstanden habe, jetzt kann ich sogar schon auf manche Details achten. Ich hätte anfangs wirklich nicht gedacht, an mir selber einen so hohen Lernerfolg sehen zu können. Ich bin natürlich sehr glücklich damit und freue mich jetzt sogar auf die Zertifikatsprüfung. Mit dem Zertifikat wird die Jobsuche sicherlich etwas einfacher und in der internationalen Arbeitswelt werde ich meine Sprachkenntnisse weiter ausbauen können.“ 

Das Bild zeigt einen Mann, der an einem Schreibtisch nachdenklich über seinen Notizen sitzt.

       Julian Porto Grazo

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Julian Porto Grazo (38), freier Dozent für Spanisch und Portugiesisch-Kurse 

„Der Kurs war sehr angenehm und ich habe viele interessierte und engagierte Leute in der Gruppe, mit denen ich bislang viel Spaß hatte. Ich mache mir aber um eine Teilnehmerin Sorgen. Sie ist ein unglaublich netter und begeisterungsfähiger Mensch. Anfangs war sie eher zurückhaltend, aber mittlerweile traut sie sich viel mehr und lässt sich auf alle meine Arbeitsaufträge ein. Es macht mir Freude, zu sehen, wie viel Spaß sie an der Sprache hat. Nun steht aber die Zertifikatsprüfung an und ich fürchte, sie wird die Prüfung nicht oder zumindest nicht erfolgreich bestehen können. Sie hatte im Vergleich zu den anderen  bereits am Anfang große Wissenslücken bezüglich Grammatik und Sprachstil. Ich konnte für sie aber nicht alles wiederholen oder extra üben. Ihr scheint ihr Defizit gar nicht richtig aufzufallen. Sie bemüht sich wirklich frei zu reden, aber sie macht so unglaublich viele Fehler, dass ich sie gar nicht ausreichend korrigieren kann. Grundsätzlich möchte ich natürlich freies Sprechen fördern und dabei sind Fehler erstmal nichts Schlimmes, aber wenn ich daran denke, dass ich alle meine Kursmitglieder erfolgreich durch die Prüfung kriegen will, frage ich mich, wie ich ihr jetzt noch helfen kann.“