Für Teilnehmende von Weiterbildungen ist es wichtig, dass das Gelernte anschlussfähig und relevant ist. Individualisierung und Teilnehmerorientierung sind hierfür Schlüsselbegriffe. Individualisiert und teilnehmerorientiert vorzugehen, bedeutet, Lernanforderungen und Teilnehmervoraussetzung bestmöglich zu vereinen. Um diese Übereinstimmung herzustellen, eignen sich die Methoden „Reading“ und „Flexing“.

Um die Lernanforderungen und Teilnehmervoraussetzungen möglichst gut zusammenzubringen, sollten Lehrende zwei didaktische Leistungen erbringen: die individuellen Voraussetzungen der Zielgruppe bei der Planung und während der digitalen Weiterbildung mit einbeziehen und deren Bedürfnisse berücksichtigen: Partizipation. Auch dieses Vorgehen sollte schon bei der Planung mitberücksichtigt werden.  Doch wie kann dies in digitalen Weiterbildungen gelingen?

Wie können Lehrende die individuellen Voraussetzungen der Teilnehmenden in digitalen Kursen  erkennen und berücksichtigen?

 

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Im Folgenden können Sie dieser Frage nachgehen und sich mit den unterschiedlichen Aspekten der Partizipation beschäftigen: Woher kommt “Reading” und “Flexing”, was bedeuten diese Vorgehensweisen, wie lassen sie sich in digitalen Settings umsetzen und wie lösen andere Lehrende diese Herausforderung? 

Wählen Sie aus den folgenden  Überschriften aus, um mehr zum Thema "Reading" und "Flexing"  zu erfahren.

Woher kommt "Reading" und "Flexing"?

Unter Partizipation wird die didaktisch-methodische Mitbestimmung der Teilnehmenden in der Weiterbildung verstanden. Es ist aber nicht unbedingt partizipativ, die Teilnehmenden gleich zu Beginn des Kurses nach ihren Wünschen und Erwartungen zu fragen. Viele können zu Beginn kaum sagen, was und wie sie lernen wollen. Die meisten können aber sagen, was sie schon über das Thema wissen und für welche Anwendungssituationen und aus welchen Gründen sie sich mit dem Thema beschäftigen wollen.

Lernende in einer Gruppe können sehr unterschiedliche Wünsche und Erwartungen haben und auch die Bedürfnislage einzelner Teilnehmende kann ambivalent und widersprüchlich sein. So kann es zum Beispiel für Lernende positiv sein, sich bei der Lösung einer Herausforderung helfen zu lassen. Gleichzeitig kann es für sie unangenehm sein, sich dadurch in eine Abhängigkeit begeben zu müssen. 

 

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Das klingt, als könnten es Lehrende eigentlich nur falsch machen. Horst Siebert beschreibt es wie folgt:   „Teilnehmerorientierung ist ein Prozess: zu Beginn eines Seminars sind andere Regelungen möglich und sinnvoll als im Verlauf. Teilnehmerorientierung erfordert ein Ernst nehmen der Teilnehmer/innen, aber auch den Mut zur 'Gegensteuerung'.“  (Horst Siebert, 2003) 

Um Teilnehmerorientierung nicht zu sehr zu problematisieren, ist die didaktische Handlungsperspektive des Amerikaners David Hunt hilfreich. Für ihn ist Teilnehmerorientierung auch die Anpassung des Lehrverhaltens an die Teilnehmenden und ihre Lernstile. Daraus resultiert seine Vorstellung von Lehrverhalten als „Reading“ und „Flexing“.

Was ist "Reading"?

„Reading“ bedeutet, die Gruppe oder eine Kurssituation zu erfassen oder zu „lesen“, also Lernschwierigkeiten, Über- oder Unterforderung, Irritationen, Aha-Erlebnisse und andere nonverbale Signale wahrzunehmen und zu erkennen. 

Lehrende sind hierbei gefordert, die Lernsignale der Teilnehmenden zu erkennen und zu deuten. Dies fordert sie zur Reflexion der eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster heraus, denn zum Veranstaltungsbeginn schaut man in fremde Gesichter. Sprachliche Äußerungen, non-verbale Gesten und paralinguistische (sprachbegleitende) Zeichen müssen in schneller Abfolge entschlüsselt und interpretiert werden – bis hin zum vermeintlichen „Gedankenlesen“. Es stellt sich aber meist keine eindeutige und beständige Lesart, kein geschlossenes inneres Wahrnehmungsbild von den Erwartungen, Gefühlen und Gedanken der Kursmitglieder hinsichtlich der Art der Beziehungsgestaltung, inhaltlichen Gewichtung und methodischen Bearbeitung des Themenbereichs ein, da Erfahrungs- und Bewertungswerte fehlen. Und trotzdem muss sich die Lehrperson irgendwie verhalten.  

“Reading” in digitalen Weiterbildungen 

Digitale Kurse stellen für die Lehrperson eine zusätzliche Herausforderung dar, wenn es darum geht, die Lerngruppe zu „lesen“. Denn das räumliche Bewusstsein ermöglicht es uns, „die Äußerungen anderer besser zu interpretieren und die Handlungen anderer vorhersehen zu können. Beim Arbeiten auf Distanz fehlt uns das.“ (Stahl, 2021, S. 29). Interaktion und Kommunikation bieten hier eine wichtige Unterstützung. Wenn Lehrende z.B. zu Beginn viel über die einzelnen Teilnehmenden erfahren, z.B. durch eine Kennenlernrunde oder ein Kennenlernspiel, entsteht in der Regel viel eher eine interaktionale Vertrautheit und ein (zumindest subjektiv sinnvolles, wenn auch hypothetisches) Bild von ihnen, auf das sie sich in der Folge verlassen. Dabei kann sich das Bild über die einzelnen Lernenden von Zeit zu Zeit ändern.  

Umfrage- und Feedback-Tools, auch Audience Response Systeme genannt, erfreuen sich bei Lehrenden digitaler, aber auch analoger Kurse großer Beliebtheit. Dabei handelt es sich um digitale Tools, mit denen Lehrende den Lernenden fachbezogene Fragen stellen können, um deren Lernstand zu erfahren, aber auch um situationsbezogene Informationen und Feedback einzuholen. „Gefragt werden die Lernenden etwa nach ihrer subjektiven Aufnahme des bisherigen Unterrichtsgeschehens und -tempos, Verstehensschwierigkeiten oder nach ihren Wünschen an den weiteren Unterrichtsverlauf. Die Kommentare, die auf diese Weise gesammelt werden, spiegeln individuelles Lernverhalten und -vorlieben.“ (Gunhild Berg, 2019, S. 99). Eine Befragung kann von der Lehrperson auch im Vorfeld als Vorbereitung auf die Lehrveranstaltung durchgeführt werden. Empfehlenswert ist in jedem Fall auch eine Kennenlernrunde oder ein Kennenlernspiel zu Beginn des Seminars.

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Naomi Spix, Weiterbildnerin für Kommunikationsmanagement, berichtet aus ihrer Praxis:  

„In meinen Kursen nutze ich zwischendurch gerne das Tool Mentimeter für Umfragen zum Unterrichtsgeschehen. So kann ich viel stärker auf die Wünsche und Bedürfnisse der Lernenden eingehen, mir ein Bild davon machen, wie sie im Kurs mitkommen und vielleicht an der einen oder anderen Stelle noch Erklärungsbedarf gibt. Gerade in digitalen Kursen helfen mir solche Tools, die Gruppe besser zu „lesen“ und auch die einzelnen Teilnehmenden besser im Blick zu haben.“ 

Was ist "Flexing"?

Flexing" schließt an das "Reading" an und bedeutet, nach der Wahrnehmung situativ angemessen zu reagieren und gegebenenfalls das Konzept zu ändern, spontan andere Methoden vorzuschlagen, auch wenn diese nicht geplant waren ("flexing"). Im deutschen Sprachgebrauch würde man den Begriff „Flexing“ mit „Anpassung“ übersetzen. Hier schwingt jedoch die Vorstellung eines passiven Nachgebens wider besseres Wissen mit, was mit dem Wort „flexing“ nicht gemeint ist. Das von Hunt im Original in diesem Zusammenhang verwendete Wort „matching“ lässt dagegen auf die eigentliche Funktion schließen: Das zähe Ringen um die Angleichung von Positionen bzw. der spielerische Prozess des Aushandelns unterschiedlicher Definitionen ein und derselben Situation.

Die Flexibilität der Lehrenden bzw. ihre Anpassungsfähigkeit hat aber auch Grenzen. Diese können

  1. in den Strukturen und Anforderungen der Lerninhalte und
  2. in Stil und Temperament der Lehrenden begründet sein. 

Die Variationsbreite des Lehrverhaltens und des Methodenrepertoires ist begrenzt und kann nicht beliebig erweitert werden, da sich die Lehrenden mit „ihrem“ Handeln und ihren Methoden identifizieren müssen. Hinzu kommen natürlich ihr technisches Know-how und ihre Flexibilität im Umgang mit digitalen Methoden und Werkzeugen.

Implizites und explizites  Flexing 

Es lässt sich zwischen einer impliziten und einer expliziten Anpassung des Lehrverhaltens unterscheiden. Implizit erfolgt ein „Flexing“ zum Beispiel, wenn die Lehrperson langsamer spricht, mehr Fragen zulässt, Fremdwörter erklärt, mehr visualisiert. Explizite Regelungen können sein, für eine innere Differenzierung Arbeitsgruppen zu bilden, ergänzende Texte auszuwählen oder das Tutorat einzuführen, bei dem Fortgeschrittene Anfänger und Anfängerinnen betreuen.  

Flexing in digitalen Weiterbildungen 

Nach Kulmer fällt es vielen Lehrenden online viel leichter, spontan auf die Bedürfnisse Teilnehmender zu reagieren und ihre methodisch-didaktischen Planung entsprechend anzupassen. “Möchte beispielsweise eine Gruppe einen bestimmten Inhalt vertiefen, so kann sie dazu einfach einen vorhandenen Breakout-Raum nutzen und flexibel wieder zurückkehren. Arbeitet man an einem aktuellen Thema, kann man spontan gemeinsam recherchieren, ohne den Lernraum zu verlassen.” (Kulmer 2021). 

Wenn die Lehrperson in Online-Kursen bemerkt, dass sich bei offenen Fragen in die Runde nur wenige beteiligen, kann sie die Antworten mit einem kollaborativen Tool oder im Chat sammeln lassen. Anschließend kann die Lehrperson einzelne Teilnehmende dazu einladen, ihre Beiträge zu erklären. Macht sich zum Beispiel während einem Live-Online-Seminar die sogenannte Zoom-Fatigue oder Zoom-Müdigkeit bemerkbar, kann sie eine aktivierende Aufgabe einbauen oder die Lernenden z. B. in Gruppen einteilen und eine Aufgabe erarbeiten lassen.

 

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Vor allem geht es darum, zu erkennen, wann eine Lerngruppe mehr Steuerung braucht, beziehungsweise wann die Selbststeuerung der Gruppe ausreichend ist. Auch ist es wichtig zu erkennen, wann mehr Verwendungssituationen für die Lerninhalte berücksichtigt werden sollten, um einen Transfer – also die Verlagerung des Gelernten in die Praxis – zu ermöglichen. Besonders in digitalen Lernumgebungen ist die Lehrperson auf die Interaktion und die Partizipation der Kursmitglieder angewiesen, wenn es darum geht, herauszufinden, wo sie stehen und was sie brauchen, um die Kursgestaltung entsprechend anpassen zu können. Aber auch die Kursteilnehmenden müssen erst ein Gespür dafür entwickeln, wie sich Partizipation in einem Online-Kurs gestaltet und über welchen Handlungsspielraum sie selbst verfügen. Dies gelingt durch die zielgerichtete Steuerung durch die Lehrperson. 

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Thomas Wieland, Dozent für „Pflege-Deutsch“, berichtet aus seiner Praxis: 

"In synchronen Seminarphasen, die über Videokonferenzanwendung stattfinden, können die Lernenden mir signalisieren, dass sie eine Frage habe, indem sie per Mausklick ihre digitale Hand heben oder wie in herkömmlichen Lernsituationen aufzeigen. Da die Befindlichkeiten und Reaktionen von Teilnehmenden für mich in digitalen Räumen jedoch insgesamt schwerer zu erfassen ist, hilft es mir auch, gezielt Feedbacktools einzusetzen. Durch diese kann ich in Phasen, in denen die Vermittlung von deklarativem Wissen im Vordergrund steht, von den Lernenden z. B. eine Rückmeldung zu ihrem Sprechtempo erhalten oder einen Hinweis, wenn sie nicht mitkommen oder bestimmte Begriffe einer weiteren Erklärung bedürfen. "

Einen Konsens herstellen – ein Teilaspekt des "Flexings"

„Flexing“ kann auch bedeuten, einen Konsens innerhalb der Gruppe herzustellen, wenn Teilnehmende unterschiedliche Erwartungen und Wünsche haben. Hierfür gibt es verschiedene Formen der Konsensverfahren.  

Werden zu Beginn einer Veranstaltung die Planung präsentiert und das Einverständnis der Kursmitglieder eingeholt, stellt dies bereits ein Konsensverfahren dar.  

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Mitunter lösen Konsensverfahren auch einen weiteren Lernprozess bei den Teilnehmenden aus: Nicht alle sind Mit- und Selbstbestimmung im Lernprozess gewohnt; einige wünschen es sich womöglich gar nicht erst.  

Eckard König und Gerda Volmer, Begründer der systemischen Organisationsberatung, betonen, dass Konsens herzustellen nicht bedeutet, dass man sich immer wieder in endlose Verfahrensdiskussionen verstrickt. Konsens herzustellen, kann bedeuten, dass 

  • die Lehrkraft eine Vorgehensweise oder Inhalte vorschlägt und durch Nachfragen die Zustimmung der Teilnehmenden einholt,
  • die Lehrkraft alternative Vorgehensweisen anbietet, zum Beispiel zur Art der Vermittlung,
  • die Lehrkraft mit den Teilnehmenden vereinbart, dass sie ihre Wünsche nach Inhalten, Übungsphasen etc. einbringen.

Ob dieser Anspruch im Einzelfall eingelöst werden kann, hängt dabei wesentlich von der jeweils definierten Rolle der Teilnehmenden ab bzw. von der zwischen Lehrenden, Lernenden, Institution oder Strukturbedingungen (zum Beispiel zu erfüllende Lehrpläne) verteilten Entscheidungs- und Setzungsmacht. 


Referenzen

Berg, G. (2019). Teilhabe am Wissen lernen – mit digitalen Interaktions- und Feedback-Systemen. In Hafer, J., Mauch, M., & Schumann, M. (Hg.). Teilhabe in der digitalen Bildungswelt. [Proceedings zur GMW-Tagung 2019]. Münster, New York: Waxmann, S. 96-104. 

Breloer, G., Dauber & H., Tietgens, H. (1980). Teilnehmerorientierung und Selbststeuerung in der Erwachsenenbildung. Braunschweig: Westermann. 

Klante, S. & Münder y Estellés, C. B. (2020). Teilnehmerorientiert vorgehen: Reading und Flexing. In: Auf die Teilnehmenden zugeschnitten: Teilnehmerorientierte Planung von Weiterbildungen. EULE Lernpfad. Verfügbar unter https://www.wb-web.de/lernen/lernpfade/auf-die-teilnehmenden-zugeschnitten.html 

König, E. & Volmer, G. (2005). Einführung in das systemische Denken und Handeln. Weinheim: Beltz. 

Kulmer, K. (2021). Online-Lehre: Vorteile nutzen statt Präsenz nachbilden. Verfügbar unter  https://erwachsenenbildung.at/digiprof/neuigkeiten/15487-online-lehre-vorteile-nutzen-statt-praesenz-nachbilden-er.php (zuletzt abgerufen am 13.13.2021) 

Siebert, H. (2003). Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung – Didaktik aus konstruktivistischer Sicht. München: Luchterhand. 

Thiel, H. (1991). Dimensionen des Selbstkonzepts von Erwachsenenbildnern – ein Modell zur Reflexion des Lehrverhaltens. In: Tietgens, H. (Hrsg.), Kommunikation in Lehr-Lern-Prozessen mit Erwachsenen (S. 148-161). Frankfurt: Pädagogische Arbeitsstelle des DVV.und Setzungsmacht.